Nicht nur Wissensvermittlung: Bei Verweigerung der Schulpflicht droht Sorgerechtsentzug
Der Entzug des Sorgerechts sollte in Familiensachen immer das letzte Mittel sein. Im Folgenden gab das Oberlandesgericht Karlsruhe (OLG) den Eltern des betreffenden Kindes das Sorgerecht, das ihnen vom Familiengericht (FamG) bezüglich Aufenthaltsbestimmungsrecht, Entscheidungen in schulischen Angelegenheiten sowie Beantragung öffentlicher Hilfen entzogen war, zwar zurück, doch nicht ohne den ernsten Hinweis, das dies durchaus nicht auf Dauer gelten muss.
Ein 13-Jähriger wuchs in einem ideologischen Gemenge von Reichsbürgerideen und Kritik gegen Corona-Maßnahmen auf, was 2020/2021 dazu führte, dass die Eltern ihn wegen der Maskenpflicht nicht mehr in die Realschule gehen ließen. Die Schule machte dabei zunächst einiges mit: Er durfte ohne Maske an einem Einzeltisch sitzend die Klassenarbeiten schreiben und bekam im Übrigen Lernunterlagen nach Hause geschickt. Das Sommerzeugnis 2021 ergab einen Notendurchschnitt von 1,7. Nach den Sommerferien 2021 drängte die Schule jedoch wieder auf Einhaltung der Anwesenheitspflicht. Das Ordnungsamt flankierte die Bemühungen der Schule mit mehr als 14 Ordnungsgeldbescheiden. Weil auch das nichts änderte, wandte die Schule sich an das FamG. Zum Verhandlungstermin erschien die Familie nicht. Daraufhin entzog das FamG den Eltern vorläufig die elterliche Sorge für die Teilbereiche Aufenthaltsbestimmungsrecht, Entscheidungen in schulischen Angelegenheiten sowie Beantragung öffentlicher Hilfen und ordnete Ergänzungspflegschaft an. Außerdem ermächtigte es den Ergänzungspfleger, die Herausgabe des Kindes notfalls unter Einsatz von Gewalt und mittels Betreten und Durchsuchen der elterlichen Wohnung sowie unter Inanspruchnahme der Hilfe des Gerichtsvollziehers oder der Polizei durchzusetzen.
Die Sache ging zum OLG. Dort nahmen die Eltern am Verhandlungstermin teil und teilten mit, der Sohn sei in einem Projekt angemeldet, das ihn auf den Besuch einer Regelschule ab Februar 2023 vorbereiten werde. Neben der Maskenpflicht habe es weitere Gründe gegeben, weshalb der Sohn sich in der Regelschule nicht wohlgefühlt habe. Deswegen hob das OLG den Beschluss auf und gab den Eltern das Sorgerecht zurück – nicht ohne aber festzustellen, dass der Beschluss ursprünglich rechtmäßig gewesen sei, und nicht ohne den Besuch dieses Schulprojekts zur Auflage zu machen. Der unterbliebene Schulbesuch sei eine Kindeswohlgefährdung. Das verfassungsrechtlich geschützte Erziehungsrecht der Eltern sei durch die allgemeine Schulpflicht beschränkt. Dieser Auftrag richte sich nicht nur auf die Vermittlung von Wissen. Er richte sich auch auf die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger, die gleichberechtigt und verantwortungsbewusst an den demokratischen Prozessen in einer pluralistischen Gesellschaft teilhaben. Soziale Kompetenz im Umgang auch mit Andersdenkenden, gelebte Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Überzeugung könnten effektiver eingeübt werden, wenn Kontakte mit der Gesellschaft und den in ihr vertretenen unterschiedlichen Auffassungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung sind. Ein ausreichendes Bewusstsein der Eltern für die Bedeutung der Schulpflicht für die autonome Entwicklung des Jugendlichen bestehe nicht und es gebe weiterhin nicht unerhebliche Zweifel an der Kooperationsbereitschaft der Eltern. Daher müsse der weitere Weg des Jungen über die Auflage im Blick gehalten werden. Wenn Anbahnung und Sicherstellung des Schulbesuchs scheiterten, müsse das FamG erneut das Sorgerecht entziehen.
Hinweis: Die Allgemeinheit habe ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten Parallelgesellschaften entgegenzuwirken und Minderheiten zu integrieren. Das Vorhandensein eines breiten Spektrums von Überzeugungen in einer Klassengemeinschaft könne die Fähigkeit aller Schüler zu Toleranz und Dialog als einer Grundvoraussetzung demokratischer Willensbildungsprozesse nachhaltig fördern.
Quelle: OLG Karlsruhe, Beschl. v. 25.01.2023 – 5 UF 188/22