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Schlagwort: AG Kiel

Arbeitsweg und Kinderversorgung: Anspruch auf Nutzungsausfall bei fiktiver Abrechnung auch ohne explizit geäußerten Nutzungswillen

Wieder einmal war es für ein Gericht an der Zeit, sich mit dem allseits strittigen Verkehrsrechtsthema der fiktiven Abrechnung zu beschäftigen. Das Amtsgericht Kiel (AG) musste dabei die Frage klären, ob und wann einem Geschädigten der Ersatz des Nutzungsausfalls seines unverschuldet beschädigten Fahrzeugs zu erstatten ist.

Das Fahrzeug des Geschädigten wurde bei einem Verkehrsunfall erheblich beschädigt. Die Reparaturkosten rechnete er gegenüber der eintrittspflichtigen Haftpflichtversicherung fiktiv ab. Diese wurden erstattet, nicht jedoch der ebenfalls geltend gemachte Nutzungsausfall. Die Versicherung argumentierte, der Geschädigte rechne fiktiv ab; er habe deshalb den erforderlichen Nutzungswillen nicht dokumentiert.

Das AG sprach ihm dennoch für die vom Sachverständigen ermittelte Reparaturzeit Nutzungsausfall zu. Selbst wenn der Geschädigte eine Abrechnung auf fiktiver Basis geltend macht – der Anspruch ist alles andere als fiktiv. Dieser dient vielmehr dem Ausgleich eines tatsächlich entstandenen und fühlbaren Nutzungsausfalls. Daher ist es dem Geschädigten – im Rahmen der Erforderlichkeit einerseits und der Verhältnismäßigkeit andererseits – auch bei fiktiver Abrechnung des Sachschadens unbenommen, dem Schädiger auch alle Zeiträume in Rechnung zu stellen, die laut Gutachten für die Reparatur erforderlich sind. Der Anspruch auf Nutzungsausfallentschädigung entfällt laut AG auch nicht deshalb, weil der Geschädigte angeblich keinen Nutzungswillen gehabt habe. Nach der Durchführung der Beweisaufnahme ist das Gericht davon überzeugt, dass der Geschädigte durchaus einen Nutzungswillen hatte. Er benutzte das Fahrzeug regelmäßig für seinen Arbeitsweg und/oder, um seine Kinder zur Schule und anderweitigen Aktivitäten zu bringen.

Hinweis: Das Urteil entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Danach hat der Ersatzpflichtige für den vorübergehenden Verlust der Nutzungsmöglichkeit eines Kraftfahrzeugs grundsätzlich auch dann eine Entschädigung zu leisten, wenn sich der Geschädigte einen Ersatzwagen nicht beschafft bzw. eine Reparatur nicht durchgeführt hat. Die Verfügbarkeit eines Kraftfahrzeugs innerhalb und außerhalb des Erwerbslebens ist grundsätzlich geeignet, Zeit und Kraft zu sparen, so dass die dadurch gewonnenen Vorteile als „Geld“ zu betrachten sind. Auch hat der Geschädigte finanzielle Mittel zur Anschaffung und Haltung des Fahrzeugs eingesetzt, um den damit verbundenen „geldwerten“ Vorteil zu erreichen.

Quelle: AG Kiel, Urt. v. 21.05.2021 – 107 C 19/21

Thema: Verkehrsrecht

Anscheinsbeweis bei Kettenunfall: Wer dem Vordermann auffährt, muss Unvorhersehbarkeit dieses Umstands beweisen können

Im folgenden Fall musste das Amtsgericht Kiel (AG) eine Kettenreaktion auflösen, und zwar nach einem Auffahrunfall. Wer bei drei hintereinanderfahrenden Autos letztendlich was beweisen muss – lesen Sie hier.

Innerorts standen drei Fahrzeuge hintereinander vor einer auf Rot geschalteten Ampel. Nachdem die Ampel auf das ersehnte Grünlicht umgesprungen war, fuhren alle drei an und erreichten eine Geschwindigkeit zwischen 50 und 60 Stundenkilometern. Als das mittlere Fahrzeug plötzlich abbremste, fuhr ihm dessen Hintermann auf. Dieser behauptete, das vorausfahrende erste Fahrzeug habe grundlos abgebremst und das mittlere Fahrzeug sei auf das erste Fahrzeug aufgefahren, so dass er keine Möglichkeit mehr hatte, selbst seinen Auffahrunfall zu verhindern.

Das AG hat die Klage des Fahrers des dritten Fahrzeugs abgewiesen. Durch die Beweisaufnahme konnte nicht bewiesen werden, dass das mittlere Fahrzeug auf das erste Fahrzeug aufgefahren sei. Schließlich habe dessen Fahrer sogar ausgesagt, noch rechtzeitig hinter dem ersten Fahrzeug zum Stehen gekommen zu sein. Auch der vom Gericht eingeschaltete Sachverständige bestätigte, dass aus technischer Sicht alles dafür spreche, dass der Fahrer des dritten Fahrzeugs auf das mittlere Fahrzeug aufgefahren sei. Das AG hat die Klage daher abgewiesen – mit der Begründung, dass gegen den Auffahrenden der Anscheinsbeweis für sein alleiniges Verschulden spricht, wenn er nicht nachweisen kann, dass das mittlere Fahrzeug auf das erste Fahrzeug aufgefahren ist.

Hinweis: Die Entscheidung des Gerichts steht im Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung. Das bloße Abbremsen des Vordermanns – auch das plötzliche Abbremsen – genüge grundsätzlich nicht, einen Anscheinsbeweis zu erschüttern, weil jeder Verkehrsteilnehmer hiermit stets rechnen müsse. Der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis kann zwar dann erschüttert werden, sobald der Vorausfahrende unvorhersehbar und ohne Ausschöpfung des Anhaltewegs „ruckartig“ – etwa infolge einer Kollision – zum Stehen gekommen und der Nachfolgende deshalb aufgefahren ist. Hieran fehlte es im vorliegenden Fall allerdings.

Quelle: AG Kiel, Urt. v. 19.11.2020 – 118 C 76/19

Thema: Verkehrsrecht

Verstoß gegen Aufklärungsobliegenheit: Wer einen selbstverursachten Unfall verspätet meldet, riskiert den Vollkaskoschutz

Eigentlich sollte es klar sein, dass das Entfernen vom Unfallort im Straßenverkehr gegen die sogenannte Aufklärungsobliegenheit verstößt, wenn keine Feststellungen zur Person, des Fahrzeugs und der Art der Beteiligung ermöglicht wurden oder eine nach den Umständen angemessene Zeit nicht abgewartet wurde. Und dennoch landen derart gestaltete Fälle immer wieder vor Gericht – wie hier vor dem Amtsgericht Kiel (AG).

Eine Autofahrerin befuhr innerorts eine Straße. Als ihr durch das geöffnete Fenster etwas ins Auge flog, wurde sie kurzzeitig abgelenkt. Sie fuhr dadurch mit der linken vorderen Fahrzeugseite über eine Verkehrsinsel und das auf der Verkehrsinsel befindliche Verkehrszeichen um. Die Frau nahm zwar einen Knall und einen Ruck in ihrem Fahrzeug wahr, ging aber davon aus, dass es nicht zu einer Beschädigung gekommen sei. Erst am am nächsten Tag stellte sie Beschädigungen an ihrem Fahrzeug fest und fuhr sofort zur nächsten Polizeistation, wo sie den Unfall anzeigte. Von ihrer Vollkaskoversicherung verlangte sie den an ihrem Fahrzeug entstandenen Schaden ersetzt – was diese ablehnte.

Auch das AG entschied, dass der Fahrerin keine Entschädigungsleistungen aus der Vollkaskoversicherung zustünden, weil sie gegen Aufklärungsobliegenheiten verstoßen habe. Dadurch, dass sich die Fahrerin nach Wahrnehmung des Knalls nicht bei der Polizei gemeldet bzw. an der Unfallstelle gewartet hatte, habe sie nach Auffassung des Gerichts die sich aus den Allgemeinen Kraftfahr-Bedingungen (AKB) ergebende Aufklärungsobliegenheit verletzt. Auch wenn sie den Unfall am nächsten Tag gemeldet hat, liegt trotzdem eine Aufklärungsobliegenheitsverletzung vor, da nach den AKB auch Feststellungen dazu getroffen werden müssen, ob die Fahrerin bei dem Unfall unter Alkohol- oder Drogeneinfluss gestanden habe.

Hinweis: Das Urteil des AG ist noch nicht rechtskräftig. In der Rechtsprechung ist allerdings anerkannt, dass es für die Beurteilung des Handelns des Versicherungsnehmers allein auf den Zeitpunkt ankommt, in dem dieser die Obliegenheit (Wartepflicht) verletzt, ähnlich der Vorschrift des unerlaubten Entfernens vom Unfallort.

Quelle: AG Kiel, Urt. v. 12.11.2020 – 118 C 95/20

Thema: Verkehrsrecht

Auffahrunfälle auf Autobahnen: Bei unklarem Ablauf mit Spurwechseln kommt es regelmäßig zur Haftungsverteilung

Bei Auffahrunfällen auf einer Autobahn kommt der Anscheinsbeweis dann nicht zur Anwendung, wenn zwar feststeht, dass vor dem Unfall ein Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs stattgefunden hat, der Sachverhalt im Übrigen aber nicht aufklärbar ist.

Auf einer Autobahn musste ein Autofahrer verkehrsbedingt abbremsen, woraufhin ihm der dahinter befindliche Transporter auffuhr. Der Fahrer des wiederum dahinter folgenden Fahrzeugs fuhr dann seinerseits auf den Transporter auf und erklärte, dessen Fahrer hätte unmittelbar vor ihm mit einem Abstand von einer Fahrzeuglänge die Spur gewechselt und anschließend sofort gebremst. Nur deshalb sei es zu dem zweiten Auffahrunfall gekommen.

Das Amtsgericht Kiel (AG) hat dem Halter des zweiten auffahrenden Pkw Schadensersatz von 50 % zugesprochen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme war nicht zu klären, ob es zu dem zweiten Auffahrunfall deshalb kam, weil der Fahrer des Transporters unmittelbar zuvor die Spur gewechselt hatte, oder ob der Fahrer des ihm folgenden Pkw aus Unachtsamkeit oder aufgrund nicht angepasster Geschwindigkeit aufgefahren war. Neutrale Zeugen, die den Unfallhergang beobachtet haben, standen nicht zur Verfügung.

Lässt sich allein nur der Auffahrunfall an sich feststellen, sich aber nicht aufklären, ob es sich um einen typischen Auffahrunfall handelt, oder ob dem Unfallgeschehen ein Spurwechsel des Vorausfahrenden unmittelbar vorausgegangen ist, kommen die Regeln über den Anscheinsbeweis nicht zur Anwendung – zumal wenn sich der Unfall auf einer Bundesautobahn ereignet hat. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass unklar geblieben ist, ob der Fahrer des nachfolgenden Pkw bereits so lange in einer Spur hinter dem Transporter hergefahren ist, dass sich beide Fahrer auf die vorangegangene Fahrbewegung hätten einstellen können.

Hinweis: Das Urteil des AG entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Zwar spricht gegen denjenigen, der auf den Vorausfahrenden auffährt, der Beweis des ersten Anscheins. Dieser Grundsatz ist aber gerade bei Unfällen auf einer Autobahn nicht anzuwenden, wenn ein vorausgegangener Spurwechsel nicht auszuschließen ist. 
  
 Quelle: AG Kiel, Urteil vom 27.03.2018 – 115 C 444/17

Thema: Verkehrsrecht