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Schlagwort: allgemeiner Erfahrungssatz

Behaupteter Spurwechsel: Den Anscheinsbeweis zu widerlegen, ist Aufgabe des Auffahrenden

Bestreitet der Vorausfahrende den vom Auffahrenden behaupteten Spurwechsel, den dieser zudem nicht beweisen kann, bleibt für die Abwägung allein der Auffahrunfall maßgeblich. Es ist nicht Sache des Vorausfahrenden zu beweisen, dass ein Spurwechsel nicht stattgefunden hat.

Auf einer Autobahn kam es zu einem Verkehrsunfall. Der Schädiger fuhr auf das vor ihm fahrende Fahrzeug des Geschädigten und behauptete, dieser habe kurz zuvor einen Spurwechsel vorgenommen.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat nunmehr entschieden, dass für den Fall, dass der Auffahrende nicht beweisen kann, dass der Geschädigte kurz zuvor einen Spurwechsel durchgeführt hat, den Auffahrenden die Alleinhaftung trifft. Denn nach ständiger Rechtsprechung des BGH kann auch bei Auffahrunfällen auf der Autobahn der Anscheinsbeweis dafür sprechen, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft allein verursacht hat. Das „Kerngeschehen Auffahrunfall“ reicht für die Annahme eines Anscheinsbeweises dann allerdings nicht aus, wenn atypische Umstände vorliegen. Hierzu gehört auch ein durchgeführter Spurwechsel. Steht allerdings nicht fest, ob solche atypischen Umstände vorliegen, steht der Anwendung des Anscheinsbeweises nichts entgegen.

Es obliegt demjenigen, zu dessen Lasten ein solcher Anscheinsbeweis angewendet werden soll, darzulegen und ggf. zu beweisen, dass Umstände vorlagen, die gegen den Charakter des ersten Anscheins sprechen. Er hat den Anscheinsbeweis also zu erschüttern. Bestreitet der Geschädigte den behaupteten Spurwechsel jedoch und kann der Auffahrende diesen nicht beweisen, ist bei der Abwägung allein ein Auffahrunfall mit seinen generellen Wesenszügen maßgeblich.

Hinweis: Bei einem Anscheinsbeweis handelt es sich um eine Beweiserleichterung für den Geschädigten. Soll der Anscheinsbeweis zur Anwendung kommen, muss ein allgemeiner Erfahrungssatz festgestellt werden, aufgrund dessen sich der Schluss aufdrängt, eine bestimmte Folge sei auf eine bestimmte Ursache oder umgekehrt zurückzuführen. Kann der Schädiger den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis nicht erschüttern, bleibt es in der Regel bei seiner vollen Haftung.

Quelle: BGH, Urt. v. 13.12.2016 – VI ZR 32/16

Thema: Verkehrsrecht

Zeugenloser Unfall: Anscheinsbeweis spricht gegen Linksabbieger und für dessen 100%ige Haftung

Kommt der Fahrer eines Elektrorollers beim Überholen eines linksabbiegenden Pedelecs zu Fall, spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Linksabbiegers.

Der Fahrer eines Elektrorollers fuhr in gleicher Fahrtrichtung wie ein Pedelec-Fahrer, wobei sich dieser etwas vor ihm befand. Kurz vor einer durch Verkehrszeichen markierten Überquerungshilfe bog der Pedelec-Fahrer plötzlich nach links ab, um die Straße zu überqueren, ohne jedoch hierbei auf den nachfolgenden Verkehr zu achten. Der Elektrorollerfahrer wollte gerade in diesem Zeitpunkt das Pedelec überholen, erschreckte sich infolge des Abbiegemanövers und stürzte, ohne dass es dabei zu einer Berührung der Beteiligten kam.

Das Oberlandesgericht München (OLG) hat entschieden, dass der Pedelec-Fahrer zu 100 % haftet, auch wenn es nicht zu einer Kollision gekommen ist. Dem Pedelec-Fahrer war es nicht gelungen, den gegen ihn wirkenden „Beweis des ersten Anscheins“ zu erschüttern oder gar zu beseitigen. Dies wäre zum Beispiel möglich gewesen, wenn er hätte nachweisen können, dass er rechtzeitig den beabsichtigten Fahrtrichtungswechsel angezeigt hätte oder der Elektrorollerfahrer selbst verbotswidrig bei unklarer Verkehrslage überholt habe. Etwas Derartiges konnte er aber mangels Zeugen nicht beweisen. Auch ein anteiliges Mitverschulden des Elektrorollerfahrers kam nicht in Betracht, da hierfür nur Faktoren hätten berücksichtigt werden dürfen, die unstreitig oder erwiesen zur Entstehung des Schadens beigetragen haben und dem Elektrorollerfahrer eindeutig zuzurechnen gewesen wären. Aber auch das war in den Augen des Gerichts nicht der Fall.

Hinweis: Die Entscheidung des OLG zeigt einmal mehr, dass auch ohne Zeugenaussagen eine 100%ige Haftung nach Anscheinsbeweisgrundsätzen möglich ist. Ein Anscheinsbeweis kommt immer dann in Betracht, wenn ein allgemeiner Erfahrungssatz den Schluss aufdrängt, eine bestimmte Folge sei auf eine bestimmte Ursache (oder umgekehrt) zurückzuführen.

Quelle: OLG München, Urt. v. 11.09.2015 – 10 U 1455/13

Thema: Verkehrsrecht