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Schlagwort: Betriebsgefahr

Lückenrechtsprechung: Wer sich vorsichtig einfädelt, darf auf die Rücksichtnahme Vorfahrtsberechtigter zählen

Das Vorfahrtsrecht entbindet den Verkehrsteilnehmer, der an einer zum Stillstand gekommenen Fahrzeugkolonne links vorbeifährt, nicht von der Pflicht, auf größere Lücken in der Kolonne zu achten.

Ein Pkw-Fahrer wollte aus einer untergeordneten Straße durch eine Lücke auf die Hauptstraße einfahren, um dann im weiteren Verlauf nach links abzubiegen. Hierbei kam es zu einer Kollision mit einem Pkw, welcher auf der Hauptstraße fuhr, der links an der Fahrzeugkolonne vorbeigefahren war.

Nach Auffassung des OLG Düsseldorf war vorliegend eine Haftungsverteilung von 75 % : 25 % zu Lasten des Wartepflichtigen vorzunehmen. Kommt eine Fahrzeugreihe vor einer Einmündung ins Stocken, dann muss derjenige Verkehrsteilnehmer, der diese Reihe überholen will, mit dem Vorhandensein für ihn unsichtbarer Hindernisse rechnen und seine Geschwindigkeit darauf einrichten. Somit muss ein vorfahrtberechtigter Verkehrsteilnehmer, der an einer zum Stillstand gekommen Fahrzeugkolonne links vorbeifährt, bei Annäherung an eine Kreuzung oder Einmündung auf größere Lücken in der Kolonne achten. Er hat sich darauf einzustellen, dass diese Lücken vom Querverkehr benutzt werden. Er muss zudem damit rechnen, dass der eine solche Lücke ausnutzende Verkehrsteilnehmer nur unter erheblichen Schwierigkeiten an der haltenden Fahrzeugschlange vorbei Einblick in den parallel verlaufenden Fahrstreifen nehmen und dass Verkehrsverhalten der dort befindlichen Fahrzeugführer beobachten kann. Er darf sich der Lücke daher nur mit voller Aufmerksamkeit und unter Beachtung einer Geschwindigkeit, die notfalls ein sofortiges Anhalten ermöglicht, nähern. Da der Vorfahrtberechtigte dies nicht beachtet hat, hat das Gericht eine Mithaftung von 25 % angenommen.

Hinweis: Grundsätzlich haftet der Wartepflichtige beim Verkehrsunfall mit dem Vorfahrtberechtigten zu 100 %. Etwas anderes gilt nach der sogenannten „Lückenrechtsprechung“, da hier regelmäßig eine Mithaftung des Vorfahrtberechtigten aus der Betriebsgefahr angenommen wird.

Quelle: OLG Düsseldorf, Urt. v. 25.04.2017 –  I-1 U 147/16

Thema: Verkehrsrecht

Zwölfjährige verursacht Unfall: Die altersgemäß vorhandene Einsicht in das eigene Fehlverhalten spricht für eine Haupthaftung

Steigt ein zwölf Jahre altes Kind nach einem Schulausflug nachts aus einem Reisebus, überquert dabei hinter dem Bus die Straße und verunfallt draufhin mit einem Motorradfahrer, trifft das Kind ein Mitverschulden von 2/3.

Eine zum Unfallzeitpunkt zwölfjährige Schülerin stieg Mitte April gegen 22:00 Uhr aus einem Bus und überquerte anschließend hinter diesem eine Ortsdurchfahrtsstraße, wo es dann zu einer Kollision mit einem Motorradfahrer kam. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts Stuttgart trägt das Kind am Zustandekommen des Unfalls ein Mitverschulden in Höhe von 2/3. Da die Schülerin zum Unfallzeitpunkt bereits zwölf Jahre alt war, ist ein Mitverschulden nur dann ausgeschlossen, wenn sie bei der Begehung der schädigenden Handlung noch nicht die erforderliche Einsicht in ihr Fehlverhalten gehabt hätte. Hiervon war im vorliegenden Fall jedoch nicht auszugehen. Vielmehr habe sie gegen die ihr bekannte Pflicht verstoßen, die Fahrbahn nur unter Beachtung des Fahrzeugverkehrs zu überqueren – besonders auch deshalb, weil sie nachts hinter dem Bus die Straße überquert hat. Sie war für den herankommenden Motorradfahrer also nicht zu erkennen. Auch wenn den Motorradfahrer kein direktes Verschulden am Zustandekommen des Unfalls trifft, haftet er dennoch aus der sogenannten Betriebsgefahr, da ein Unfallrekonstruktionsgutachten eine überhöhte Geschwindigkeit nicht auschließen konnte.

Hinweis: Eine Mithaftung des Motorradfahrers zu 1/3 wurde im vorliegenden Fall nur deshalb angenommen, weil ein Kind beteiligt war. Wäre es mit einem Erwachsenen zum selben Unfall gekommen, hätte das Gericht wahrscheinlich eine alleinige Haftung des Erwachsenen angenommen. Der Bundesgerichtshof hat nämlich entschieden, dass ein Mitverschulden von Kindern und Jugendlichen meist geringer zu bewerten ist als das entsprechende Mitverschulden eines Erwachsenen. Eine völlige Freistellung von der Gefährdungshaftung wegen eines grob verkehrswidrigen Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen setzt ferner immer voraus, dass ein Sorgfaltsverstoß altersspezifisch auch objektiv besonders vorwerfbar ist.

Quelle: OLG Stuttgart, Urt. v. 09.03.2017 – 13 U 143/16

Thema: Verkehrsrecht

Alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit: Verursacht ein volltrunkener Fußgänger einen Unfall, haftet er auch im vollen Umfang

Wer meint, im alkoholisierten Zustand rechtlich sicherzugehen, wenn er sich nur noch zu Fuß durch den Straßenverkehr bewegt, irrt gewaltig. In dunkler Kleidung an einem späten Herbstabend eine unbeleuchtete Landstraße entlangzulaufen, kann im Schadensfall doppelt wehtun – wie dieser Fall zeigt.

Im Oktober lief ein Fußgänger gegen 21:48 Uhr auf einer Landstraße – wie sich später herausstellte mit einer Blutalkoholkonzentration von 2,07 ‰. Schließlich wurde der Mann rund 100 m vor einem Ortseingang von einem Fahrzeug erfasst und verletzt. Nach Auffassung des Thüringer Oberlandesgerichts (OLG) stehen dem Mann allerdings keine Schadensersatz- bzw. Schmerzensgeldansprüche zu.

Der Unfall war darauf zurückzuführen, dass der Fußgänger auf der Fahrbahn lief – und das zudem „alkoholbedingt verkehrsuntüchtig“. Was gern vergessen wird, kam hier zum Tragen: Jeden trifft die Verpflichtung, nicht im Zustand alkoholbedingter Verkehrsuntüchtigkeit am Straßenverkehr teilzunehmen – auch Fußgänger. Bei einer solchen absoluten alkoholbedingten Verkehrstüchtigkeit verweist der Beweis des ersten Anscheins darauf, dass dieser Umstand allein ursächlich für den Unfall war. Die von dem Pkw ausgehende Betriebsgefahr tritt in diesem Fall zurück.

Hinweis: Die Entscheidung des OLG entspricht der allgemeinen Rechtsprechung. Eine Alleinhaftung eines Fußgängers wurde nicht nur in Fällen des Alkoholkonsums (ab 1,10 ‰) gesehen, sondern auch dann, wenn der Fußgänger aufgrund dunkler Kleidung bei Dunkelheit nicht zu erkennen war. In solchen Fällen wurde das Verhalten des Fußgängers als derart grob fahrlässig angesehen, dass eine Mithaftung des Pkw-Fahrers ausgeschlossen werden konnte.

Quelle: Thüringer OLG, Urt. v. 15.06.2017 – 1 U 540/16

Thema: Verkehrsrecht

Beweis des ersten Anscheins: Nach Unfall beim Reißverschlussverfahren haftet der unvorsichtige Einfädler allein

Ereignet sich ein Verkehrsunfall im Zusammenhang mit einem Spurwechsel im Reißverschlussverfahren, greifen die Grundsätze des Anscheinsbeweises.

Ein Autofahrer wechselte im Rahmen eines Reißverschlussverfahrens in die Spur, in der sich ein Lkw befand. Dort bremste er seinen Wagen nach dem Spurwechsel bis zum Stillstand ab, woraufhin der Lkw auf das Heck des Pkw auffuhr.

Das Oberlandesgericht München entschied, dass den Einfädler die alleinige Schuld an dem Verkehrsunfall trifft. Für dessen Verschulden spricht der Beweis des ersten Anscheins, der hier nicht widerlegt werden konnte. Denn zu den entscheidenden Parametern – nämlich dem Zeitraum zwischen dem Stillstand des Pkw und der Kollision sowie dem Abstand zwischen dem Lkw und dem Auto bei Einleitung des Spurwechsels – konnte der Spurwechsler keine konkreten Angaben machen. Damit ist nach Auffassung des Gerichts nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises davon auszugehen, dass der Autofahrer den Fahrstreifen gewechselt hat, ohne eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen. Eine Mithaftung aus der Betriebsgefahr auf Seiten des Lkw-Fahrers tritt hinter den Verstoß vollständig zurück, bei einem Spurwechsel keine äußerste Sorgfalt walten haben zu lassen.

Hinweis: Die Verhaltensanforderungen beim Spurwechsel im Zusammenhang mit dem Reißverschlussverfahren sind in § 7 Abs. 4 Straßenverkehrsordnung geregelt. Das Reißverschlussverfahren ist bei Fahrbahnverengungen, endenden Fahrstreifen und Verkehrsbehinderungen anzuwenden. Hierbei gilt die Regel, dass das Fahrzeug, das auf dem freien Fahrstreifen fährt, zuerst fahren darf und derjenige, der die Spur wechselt, den Wechsel rechtzeitig anzuzeigen sowie äußerste Sorgfalt zu beachten hat.

Quelle: OLG München, Urt. v. 21.04.2017 – 10 U 4565/16
Thema: Verkehrsrecht

Unfall beim Überholvorgang: Plötzlich ausscherender Fahrer haftet trotz ungewissen Kollisionsvorgangs zu 80 %

Ein Pkw-Fahrer überholte eine längere Fahrzeugkolonne. Als er sich auf Höhe des zweiten Fahrzeugs in der Kolonne befand, scherte dessen Fahrer aus – es kam zur Kollision.

Das Oberlandesgericht München hat entschieden, dass den Ausscherenden eine 80%ige Haftung trifft. Bei der Bewertung zu dessen hohen Verschulden sind zwei Optionen denkbar gewesen: Zum einen ist es womöglich deshalb zum Unfall gekommen, weil sich der Fahrer schlicht und ergreifend einfach nicht hinreichend vergewissert hatte, ob er zum Überholen ausscheren konnte, ohne den nachfolgenden Verkehr zu gefährden. Zum anderen kann seine erhebliche Mitschuld an der Kollision auch daran gelegen haben, dass er den bereits überholenden Pkw erkannt hatte und dennoch – unter grober Verkennung der Umstände – nach links ausscherte, um noch vor dem Herannahenden das erste Fahrzeug der Kolonne zu überholen.

Welche dieser beiden denkbaren Situationen vorlag, blieb hypothetisch. Fakt ist jedoch, dass in beiden Fällen die Hauptschuld beim plötzlich ausscherenden Fahrer gelegen hätte. Ein Verschulden des Überholenden konnte das Gericht hier zwar nicht feststellen; es nahm aber eine Mithaftung aus der Betriebsgefahr an. Das Überholen der Kolonne ist durchaus nicht unzulässig – ein Idealfahrer hätte jedoch angesichts der mit derartigen Gefahren verbundenen abstrakten Selbst- und Fremdgefährdung das Überholen unterlassen. Und dieses Lehrgeld beträgt in diesem Fall eine Mithaftung von 20 %.

Hinweis: Das Überholen einer Fahrzeugkolonne stellt sich nicht als ein Überholen in einer unklaren Verkehrslage dar. Denn eine bloß abstrakte Gefahr reicht zur Annahme einer unklaren Verkehrslage nicht aus. Etwas anderes kann dann gelten, wenn besondere Umstände hinzukommen – zum Beispiel, wenn die zu überholenden Fahrzeuge langsamer werden und/oder Fahrzeuge links blinken.

Quelle: OLG München, Urt. v. 24.02.2017 – 10 U 4448/16

Thema: Verkehrsrecht

Anscheinsbeweis: Kollision zweier Motorradfahrer im Gegenverkehr

Vollzieht ein Motorradfahrer beim Durchfahren einer Kurve deutlich jenseits der gedachten Fahrbahnmitte eine Vollbremsung, so dass es auf der Gegenfahrbahn mit einem seinerseits in Fahrbahnmitte fahrenden Motorrad zu einer Kollision kommt, spricht gegen ihn der Beweis des ersten Anscheins.

Auf einer Landstraße ist es zu einer Kollision zweier Motorradfahrer gekommen. Wie sich der Unfall im Einzelnen ereignet hat, war zwischen den Motorradfahrern streitig. Der geschädigte Motorradfahrer, der von dem Unfallgegner und dessen Haftpflichtversicherung Schadensersatz und Schmerzensgeld verlangte, konnte sich seinerseits an das Unfallgeschehen nicht mehr erinnern.

Das Oberlandesgericht Hamm hat dem geschädigten Motorradfahrer lediglich Schadensersatz und Schmerzensgeld in Höhe von 25 % zugesprochen. Das Gericht ist aufgrund eines Sachverständigengutachtens davon überzeugt, dass der Unfall überwiegend durch den anspruchstellenden Motorradfahrer verursacht wurde. Danach ist davon auszugehen, dass sich die Kollision der beiden Motorräder aus Sicht des anspruchstellenden Motorradfahrers auf der Gegenfahrbahn ereignet hat. Wenn wie hier ein Kradfahrer in einer Rechtskurve zu weit nach links getragen wird, dabei bereits deutlich jenseits der gedachten Fahrbahnmitte eine Vollbremsung vollzieht und letztlich auf der Gegenfahrbahn mit einem seinerseits im Bereich der Fahrspurmitte fahrenden Motorrad kollidiert, lässt dies typischerweise nur auf einen Fahrfehler des seine Fahrspur verlassenden Motorradfahrers schließen. Aufgrund der Betriebsgefahr – also der generellen Gefahr, die der Betrieb eines Motorrads mit sich bringt – war jedoch auch eine Mithaftung des entgegenkommenden Motorradfahrers nicht zu verneinen.

Hinweis: Mit dem Beweis des ersten Anscheins (klassisches Beispiel: Auffahrunfall) kann ein Prozess entschieden werden, wenn unfallneutrale Zeugen oder andere Beweismittel nicht zur Verfügung stehen. Von einem Anscheinsbeweis ist immer dann auszugehen, wenn eine typische Eigenart des zu beweisenden Geschehensablaufs vorliegt.

Quelle: OLG Hamm, Urt. v. 08.09.2015 – I-9 U 131/14

Thema: Verkehrsrecht

Trotz 200 km/h: 50%iger Schadensersatzanspruch nach Unfall durch Bodenwelle

Selbst eine Fahrt mit einer Geschwindigkeit von 200 km/h führt nicht zu einer Alleinhaftung desjenigen, der die Richtgeschwindigkeit überschreitet. Verletzt gleichzeitig der Träger der Straßenbaulast seine Verkehrssicherungspflicht, ist von einer hälftigen Haftungsverteilung auszugehen.

Auf einer Autobahn befand sich eine quer zur Fahrbahn verlaufende, 18 cm hohe Bodenwelle. Über diese fuhr ein Fahrer eines Ferrari Modena mit einer Geschwindigkeit von etwa 200 km/h. Wegen der Bodenwelle kam er von der Fahrbahn ab und verunglückte. Bereits zuvor war aufgrund der Bodenwelle ein anderer Fahrzeugführer mit seinem Fahrzeug von der Fahrbahn abgekommen und tödlich verunglückt. Der jetzt Geschädigte verlangt vom Träger der Straßenbaulast Schadensersatz.

Das Landgericht Aachen hat dem Geschädigten Schadensersatz in Höhe von 50 % zugesprochen. Der Straßenbaulastträger wäre verpflichtet gewesen, mit einem Verkehrsschild vor der Bodenwelle zu warnen. Jeder Verkehrsteilnehmer dürfe erwarten, dass insbesondere auf Autobahnen vor erheblichen Höhenunterschieden gewarnt werde. Hier hätten daher eine Geschwindigkeitsbegrenzung und ein Hinweis auf die Bodenwelle erfolgen müssen. Bodenwellen gefährden Verkehrsteilnehmer immer dann, wenn das Risiko eines Sprungschanzeneffekts besteht, was im vorliegenden Fall aufgrund der Feststellungen des Sachverständigen der Fall war. Dieser erklärte, dass er eine Bodenwelle auf Autobahnen im vorliegenden Ausmaß noch nie gesehen habe. Andererseits berücksichtigt das Gericht aber auch ein Mitverschulden des Pkw-Fahrers, der die auf Autobahnen geltende Richtgeschwindigkeit von 130 km/h deutlich überschritten hatte.

Hinweis: Immer dann, wenn die Richtgeschwindigkeit überschritten wird, kann wie hier eine Mithaftung zumindest aus der Betriebsgefahr begründet werden. Diese tritt nur dann vollständig zurück, wenn bewiesen ist, dass die gefahrene Geschwindigkeit keinen Einfluss auf den Unfall hatte – es also auch bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit zu dem Unfall mit vergleichbar schweren Folgen gekommen wäre.

Quelle: LG Aachen, Urt. v. 01.10.2015 – 12 O 87/15 
Thema: Verkehrsrecht

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