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Schlagwort: Haftungsverteilung

Beweis des ersten Anscheins: Erfahrungswerte gehen grundsätzlich vom Alleinverschulden des Auffahrenden aus

„Es kommt darauf an“ ist eine Art erstes Gebot in der juristischen Bewertung von Sachverhalten. Dagegen spricht der sogenannte Anscheinsbeweis, der sich auf Erfahrungswerte aus ähnlich gelagerten Fällen speist. Wer sich auf den erstgenannten Grundsatz stützen will, braucht stichhaltige Beweise, an denen es dem Beklagten eines Auffahrunfalls fehlte, der vor dem Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht (OLG) stand.

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Erhöhte Betriebsgefahr: Unfall bei „Touristenfahrt“ auf Rennstrecke rechtfertigt Haftungsanteil von 75 %

Wer einmal richtig aufs Gaspedal drücken möchte, ohne dabei Gesetze zu übertreten, kann dies auf dafür freigegebenen Rennstrecken tun. Dass auch dieses Unterfangen nicht ohne Gefahren ist, sollte klar sein. Wie es sich mit aber der Haftungsverteilung verhält, wenn ein anderes Fahrzeug am Unfallgeschehen – wenn auch nur durch ausgelaufene Betriebsmittel – beteiligt war, zeigt der Fall des Oberlandesgerichts Koblenz (OLG).

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Verkehrszeichen 266: Gesamtlängenbeschränkung gilt nicht nur für abgebildete Lkws, sondern für sämtliche Fahrzeuge

Verkehrszeichen dienen der Verkehrssicherheit aller Verkehrsteilnehmer und müssen demnach schnell und vor allem einfach zu erkennen sein. So versucht man mithilfe von einfacher Bildsprache, auf alle redundanten Zusatzinformationen zu verzichten. Dass sogar erklärbare Missverständnisse nicht unbedingt vor Strafe schützen  – schließlich steht vor Erteilung einer Fahrerlaubnis auch das Erlernen von Verkehrszeichen -, musste das Oberlandesgericht München (OLG) im Folgenden anhand des Verkehrszeichens 266 darlegen.

Das runde Verkehrszeichen 266 symbolisiert durch seine rote Umrandung ein Verbot. Darin ist ein schwarzer Lkw auf weißem Grund abgebildet. An seiner Unterseite symbolisieren zwei begrenzende, nach außen gerichtete Pfeile und eine Zahl die Gesamtlänge, ab der das Befahren der Straße verboten ist. Die Halterin eines Omnibusses wollte dieses Zeichen daher auch so verstanden wissen, dass es nur den Verkehr für Lkw ab der angegebenen Fahrzeuglänge beschränke – nicht aber ihr Fahrzeug. Eben jener Bus war nämlich an einer Spitzkehre einer bayerischen Bergstraße in einen Streifzusammenstoß mit einem bergab fahrenden Pkw verwickelt. Sie klagte zunächst wegen des Zusammenstoßes gegen den Halter des Pkw und dessen Haftpflichtversicherung auf Zahlung von Schadensersatz.

Das Landgericht Kempten (LG) nahm daraufhin eine Haftungsverteilung von 60 % zu 40 % zu Lasten der Klägerin vor. Da der Beklagte nachweislich nicht in ausreichendem Maße seinen rechten Fahrstreifen benutzte, war ihm zwar eine Mitschuld (§ 1 Abs. 2 und § 2 Abs. 2 StVO) anzurechnen. Jedoch habe der Fahrer des Busses den Unfall überwiegend verschuldet. Denn er habe die Straße entgegen dem Zeichen 266 befahren. Gegen diese Entscheidung legte die Klägerin Berufung ein. Dass das Verkehrszeichen 266 die Straßennutzung auf Fahrzeuge mit maximal zwölf Metern Gesamtlänge beschränkt habe, wollte die Dame, deren Bus ganze 13 Meter Länge aufwies, so nicht stehen lassen. Sie bestand darauf, dass es nur für Lkws gelte.

Doch das OLG bestätigte die Entscheidung des LG. Das Zeichen 266 gelte für alle Fahrzeuge und Fahrzeugkombinationen, die die auf dem Zeichen angegebene tatsächliche Länge überschreiten. Aus der Verwendung des Symbols eines Lkw ergebe sich nach Ansicht des Senats nichts anderes.

Hinweis: Das Verkehrszeichen 266 limitiert alle Fahrzeugkombinationen durch deren Gesamtlänge. Es soll vermeiden, dass überlange Kraftfahrzeuge beim Befahren kritischer Bereiche ein Risiko für den entgegenkommenden Straßenverkehr darstellen. Letztlich besteht das Kollisionsrisiko hierbei allein durch die Fahrzeuglänge für Omnibusse, Lkws und sogar für Pkws, die mit einem Anhänger die maximal zulässige Fahrzeuglänge übersteigen.

Quelle: OLG München, Beschl. v. 26.04.2021 – 24 U 111/21

Thema: Verkehrsrecht

Vertrauensgrundlage beim Abbiegen: Wer das Fahrverhalten anderer lediglich interpretiert und nicht abwartet, haftet empfindlich mit

Wohl jeder Verkehrsteilnehmer ist schon einmal dem irreführenden Blinkvorgang eines anderen aufgesessen. Wohl denen, die dennoch abgewartet haben, bis der angezeigte Abbiegevorgang auch tatsächlich durchgeführt wurde. Der kurze Ärger über den anderen mag dabei nämlich weniger schmerzhaft zu Buche schlagen als eine Kollision. Dass man sich dann nämlich nicht so einfach auf einen sogenannten Vertrauenstatbestand berufen kann, zeigt im Folgenden der Fall des Oberlandesgerichts Dresden (OLG).

Hier beabsichtigte eine Motorradfahrerin, an einer Kreuzung nach links abzubiegen, wobei sie aufgrund eines Stoppschilds wartepflichtig war. Obwohl ein Pkw herankam, bog die Motorradfahrerin ab. Im Kreuzungsbereich kam es zum Unfall, wobei sie sich verletzte. Sie behauptete, der Pkw-Fahrer habe nach rechts geblinkt, so dass sie sich entschloss, abzubiegen.

Das OLG hat vorliegend eine Haftungsverteilung von einem Drittel zu zwei Dritteln zu Lasten der Motorradfahrerin vorgenommen. Der Beweis des ersten Anscheins spreche grundsätzlich für ihr alleiniges Verschulden, da sie wartepflichtig war. Dass der Pkw-Fahrer nach rechts abbiegen wollte, konnte sie nicht beweisen. Dieser hatte zudem behauptet, dass er sich auf der Heimfahrt befunden und damit auch keinerlei Veranlassung gehabt hätte, nach rechts abzubiegen. Für die Motorradfahrerin lag auch keine sogenannte Vertrauensgrundlage dahingehend vor, dass der Pkw-Fahrer bei der Annäherung an den Kreuzungsbereich mit einer herabgesetzten Geschwindigkeit gefahren sei, um mutmaßlich abzubiegen. Das allein vermag den Vertrauenstatbestand nicht begründen, denn ein Herannahen mit langsamer Geschwindigkeit kann nicht als Vorbereitungshandlung zur tatsächlichen Durchführung des Abbiegevorgangs gleichgesetzt werden. Selbst wenn der Pkw-Fahrer sich der späteren Kollisionsstelle mit einer unter dem Tempolimit liegenden Geschwindigkeit von 40 km/h angenähert hätte, dürfe allein hieraus noch nicht darauf vertraut werden, er würde rechts abbiegen.

Hinweis: Ein Wartepflichtiger kann nur dann auf ein Abbiegen des Vorfahrtberechtigten vertrauen, wenn über ein bloßes Betätigen des Blinkers hinaus eine Vertrauensgrundlage geschaffen worden ist, die es im Einzelfall rechtfertigt, davon auszugehen, das Vorrecht werde nicht (mehr) ausgeübt.

Quelle: OLG Dresden, Beschl. v. 10.02.2020 – 4 U 1354/19

Thema: Verkehrsrecht

Lückenrechtsprechung: Wer sich vorsichtig einfädelt, darf auf die Rücksichtnahme Vorfahrtsberechtigter zählen

Das Vorfahrtsrecht entbindet den Verkehrsteilnehmer, der an einer zum Stillstand gekommenen Fahrzeugkolonne links vorbeifährt, nicht von der Pflicht, auf größere Lücken in der Kolonne zu achten.

Ein Pkw-Fahrer wollte aus einer untergeordneten Straße durch eine Lücke auf die Hauptstraße einfahren, um dann im weiteren Verlauf nach links abzubiegen. Hierbei kam es zu einer Kollision mit einem Pkw, welcher auf der Hauptstraße fuhr, der links an der Fahrzeugkolonne vorbeigefahren war.

Nach Auffassung des OLG Düsseldorf war vorliegend eine Haftungsverteilung von 75 % : 25 % zu Lasten des Wartepflichtigen vorzunehmen. Kommt eine Fahrzeugreihe vor einer Einmündung ins Stocken, dann muss derjenige Verkehrsteilnehmer, der diese Reihe überholen will, mit dem Vorhandensein für ihn unsichtbarer Hindernisse rechnen und seine Geschwindigkeit darauf einrichten. Somit muss ein vorfahrtberechtigter Verkehrsteilnehmer, der an einer zum Stillstand gekommen Fahrzeugkolonne links vorbeifährt, bei Annäherung an eine Kreuzung oder Einmündung auf größere Lücken in der Kolonne achten. Er hat sich darauf einzustellen, dass diese Lücken vom Querverkehr benutzt werden. Er muss zudem damit rechnen, dass der eine solche Lücke ausnutzende Verkehrsteilnehmer nur unter erheblichen Schwierigkeiten an der haltenden Fahrzeugschlange vorbei Einblick in den parallel verlaufenden Fahrstreifen nehmen und dass Verkehrsverhalten der dort befindlichen Fahrzeugführer beobachten kann. Er darf sich der Lücke daher nur mit voller Aufmerksamkeit und unter Beachtung einer Geschwindigkeit, die notfalls ein sofortiges Anhalten ermöglicht, nähern. Da der Vorfahrtberechtigte dies nicht beachtet hat, hat das Gericht eine Mithaftung von 25 % angenommen.

Hinweis: Grundsätzlich haftet der Wartepflichtige beim Verkehrsunfall mit dem Vorfahrtberechtigten zu 100 %. Etwas anderes gilt nach der sogenannten „Lückenrechtsprechung“, da hier regelmäßig eine Mithaftung des Vorfahrtberechtigten aus der Betriebsgefahr angenommen wird.

Quelle: OLG Düsseldorf, Urt. v. 25.04.2017 –  I-1 U 147/16

Thema: Verkehrsrecht

Trotz 200 km/h: 50%iger Schadensersatzanspruch nach Unfall durch Bodenwelle

Selbst eine Fahrt mit einer Geschwindigkeit von 200 km/h führt nicht zu einer Alleinhaftung desjenigen, der die Richtgeschwindigkeit überschreitet. Verletzt gleichzeitig der Träger der Straßenbaulast seine Verkehrssicherungspflicht, ist von einer hälftigen Haftungsverteilung auszugehen.

Auf einer Autobahn befand sich eine quer zur Fahrbahn verlaufende, 18 cm hohe Bodenwelle. Über diese fuhr ein Fahrer eines Ferrari Modena mit einer Geschwindigkeit von etwa 200 km/h. Wegen der Bodenwelle kam er von der Fahrbahn ab und verunglückte. Bereits zuvor war aufgrund der Bodenwelle ein anderer Fahrzeugführer mit seinem Fahrzeug von der Fahrbahn abgekommen und tödlich verunglückt. Der jetzt Geschädigte verlangt vom Träger der Straßenbaulast Schadensersatz.

Das Landgericht Aachen hat dem Geschädigten Schadensersatz in Höhe von 50 % zugesprochen. Der Straßenbaulastträger wäre verpflichtet gewesen, mit einem Verkehrsschild vor der Bodenwelle zu warnen. Jeder Verkehrsteilnehmer dürfe erwarten, dass insbesondere auf Autobahnen vor erheblichen Höhenunterschieden gewarnt werde. Hier hätten daher eine Geschwindigkeitsbegrenzung und ein Hinweis auf die Bodenwelle erfolgen müssen. Bodenwellen gefährden Verkehrsteilnehmer immer dann, wenn das Risiko eines Sprungschanzeneffekts besteht, was im vorliegenden Fall aufgrund der Feststellungen des Sachverständigen der Fall war. Dieser erklärte, dass er eine Bodenwelle auf Autobahnen im vorliegenden Ausmaß noch nie gesehen habe. Andererseits berücksichtigt das Gericht aber auch ein Mitverschulden des Pkw-Fahrers, der die auf Autobahnen geltende Richtgeschwindigkeit von 130 km/h deutlich überschritten hatte.

Hinweis: Immer dann, wenn die Richtgeschwindigkeit überschritten wird, kann wie hier eine Mithaftung zumindest aus der Betriebsgefahr begründet werden. Diese tritt nur dann vollständig zurück, wenn bewiesen ist, dass die gefahrene Geschwindigkeit keinen Einfluss auf den Unfall hatte – es also auch bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit zu dem Unfall mit vergleichbar schweren Folgen gekommen wäre.

Quelle: LG Aachen, Urt. v. 01.10.2015 – 12 O 87/15 
Thema: Verkehrsrecht

Bushaltestelle: Schadensverteilung bei Kollision zwischen Radler und Fahrgast

Kollidiert ein Radfahrer auf einem Radweg, der an einer Bushaltestelle vorbeiführt und für die Fahrgäste einen reservierten Bereich von bis zu 3 m vorsieht, mit einem just ausgestiegenen Fahrgast, kommt eine Haftungsverteilung von 80 : 20 zu Lasten des Radfahrers in Betracht

Eine Radfahrerin befuhr innerorts einen Radweg. Links von ihr hielt ein Linienbus, aus dem Fahrgäste ausstiegen. Mit einem der Fahrgäste kollidierte die Radfahrerin und verletzte sich hierbei. Sie verlangte von dem Fahrgast Schadensersatz.

Das Kammergericht Berlin hat der Radfahrerin lediglich Schadensersatz von 20 % zugesprochen. Das Gericht vertritt die Auffassung, dass der Zusammenstoß überwiegend von ihr selbst verursacht wurde, und bemisst deren Mitverschuldensanteil mit 80 %. Die Radfahrerin hätte erkennen können, dass aus dem haltenden Linienbus Fahrgäste aussteigen, und war daher zu einer erhöhten Aufmerksamkeit und Sorgfalt verpflichtet. Zu berücksichtigen war, dass der relativ schmale Bereich für Fußgänger von bis zu 3 m nicht geeignet war, eine größere Zahl von aussteigenden Fahrgästen aufzunehmen, und diese durch nachrückende Fahrgäste auf den sich anschließenden Radweg gedrängt werden. Die Radfahrerin hätte die Haltestelle nur passieren dürfen, wenn eine Gefährdung von Fahrgästen ausgeschlossen ist – was ersichtlich nicht der Fall war.

Hinweis: In der Straßenverkehrsordnung ist geregelt, dass an ein- oder aussteigenden Fahrgästen mit Schrittgeschwindigkeit nur in einem solchen Abstand vorbeigefahren werden darf, dass eine Gefährdung der Fahrgäste ausgeschlossen ist. Diese Vorschrift verlangt also eine außerordentliche Aufmerksamkeit und Sorgfaltspflicht. Eine Schadensverteilung von 80 : 20 zu Lasten der Radfahrerin erscheint daher angemessen.

Quelle: KG, Beschl. v. 15.01.2015 – 29 U 18/14 

Thema: Verkehrsrecht