Skip to main content

Schlagwort: Mitverschulden

Biker in Turnschuhen: Die Auslegung des allgemeinen Verkehrsbewusstseins bestimmt den Grad der Mitschuld

An einer innerstädtischen Kreuzung kam es zu einem Verkehrsunfall, zu dessen Zeitpunkt der beteiligte Motorradfahrer Turnschuhe trug. Aufgrund dieser Tatsache nahm die Versicherung eine Kürzung seiner Schmerzensgeldansprüche mit der Begründung vor, dass ihn ein Mitverschulden treffe, da er keine Motorradstiefel getragen habe.

Das Oberlandesgericht München (OLG) hat entschieden, dass den Motorradfahrer kein Mitverschulden trifft. Der Straßenverkehrsordnung (StVO) sei lediglich eine gesetzliche Helmpflicht zu entnehmen, aber darüber hinausgehend keine Pflicht, besondere Motorradschutzkleidung wie etwa Motorradstiefel zu tragen. Daraus allein ist ein Mitverschulden aber nicht grundsätzlich auszuschließen. Ein Mitverschulden ist nämlich bereits dann anzunehmen, wenn der Verletzte jene Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt. Dass festere Schuhe grundsätzlich einen besseren Schutz bieten, ist allgemein bekannt. Allerdings gibt es keine belastbaren Zahlen, wonach es hinsichtlich des hier maßgeblichen Zeitpunkts des Verkehrsunfalls im November 2012 dem allgemeinen Verkehrsbewusstsein entsprochen hätte, dass es für Leichtkraftradfahrer innerhalb geschlossener Ortschaften erforderlich ist, Motorradstiefel zu tragen.

Hinweis: Die Entscheidung des OLG entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Dieser hatte im Juni 2014 entschieden, dass einen Radfahrer kein Mitverschulden an seinen Kopfverletzungen trifft, weil er keinen Fahrradhelm getragen hat. Das Gericht begründete seine Entscheidung seinerzeit damit, dass auch zum damaligen Unfallzeitpunkt ein allgemeines Verkehrsbewusstsein nicht festgestellt werden konnte, das es erforderlich machte, einen Fahrradhelm zu tragen.

Quelle: OLG München, Urt. v. 19.05.2017 – 10 U 41256/16

zum Thema: Verkehrsrecht

Unfall nach Reifenwechsel: Ohne hinreichend erteilten Wartungshinweis haftet die Werkstatt anteilig

Eine Werkstatt, die einen Reifenservice anbietet, muss ihre Kunden hinreichend auf die Notwendigkeit des Nachziehens der Radschrauben nach 50 bis 100 km Fahrstrecke aufmerksam machen.

Der Kunde eines Autohauses ließ an seinem Fahrzeug Winterreifen aufziehen. Nach einer Fahrstrecke von knapp 2.000 km löste sich eines der montierten Räder. Es kam zu einem Unfall, durch den ein Schaden in Höhe von etwa 4.400 EUR am Fahrzeug des Kunden entstand. Er verlangte daraufhin von der Werkstatt Schadensersatz.

Das Landgericht Heidelberg (LG) verurteilte die Werkstatt, dem Kunden 70 % des ihm entstandenen Schadens auszugleichen. Das Gericht nahm ein Mitverschulden in Höhe von 30 % an, da das Lösen des Rads nach Auffassung des vom Gericht beauftragten Sachverständigen sowohl akustisch als auch durch ein verändertes Fahrverhalten hätte bemerkt werden müssen. In diesem Fall hätte ein verständiger Fahrer das Fahrzeug unverzüglich zur Kontrolle in die Werkstatt gebracht.

Hinweis: Das LG macht in seiner Entscheidung deutlich, dass ein bloßer Hinweis auf der Rechnung zur Notwendigkeit des Nachziehens der Radmuttern nicht ausreicht. Die Hinweispflicht der Werkstatt ist nur dann erfüllt, wenn sie den Hinweis mündlich erteilt oder dem Kunden den schriftlichen Hinweis so zugänglich macht, dass unter normalen Verhältnissen mit einer Kenntnisnahme zu rechnen ist. Hiervon ist nicht auszugehen, wenn sich ein solcher Hinweis erst unter einer etwaigen Unterschrift auf der Rechnung befindet. Der Kunde muss letztendlich nämlich nur das lesen, was oberhalb der Unterschrift steht. Ein Anlass, dennoch weiterzulesen, besteht nach Auffassung des Gerichts nicht. Der Hinweis der Werkstatt sollte daher optisch derart hervorgehoben sein, dass er für den Kunden unmittelbar erkennbar ist.

Quelle: LG Heidelberg, Urt. v. 27.07.2011 – 1 S 9/10
Thema: Verkehrsrecht

Verkehrssicherungspflicht: Unvermittelt auftauchende Stufen auf dunklen Wegen führen im Schadensfall zur Haftung

Ein zur Verkehrssicherung Verpflichteter verletzt diese Pflicht, wenn er einen Weg zugänglich macht, ohne diesen ausreichend zu beleuchten oder auf eine dort unerwarteterweise befindliche Stufe hinzuweisen.

Die zum Zeitpunkt des Vorfalls 70 Jahre alte Geschädigte verließ im Jahr 2011 gegen 18:30 Uhr eine Heiligabendmesse. Dabei verließ sie die Kirche gemeinsam mit anderen Gottesdienstbesuchern durch einen Seitenausgang, der nur zu besonderen Anlässen geöffnet wurde. Dieser Seitenausgang führte auf einen Hof und von dort durch eine Eisenpforte, hinter der sich eine aufsteigende Stufe mit einer Höhe von rund 15-18 cm befand. Die Geschädigte stolperte über diese Stufe und verletzte sich schwer an der linken Schulter.

Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht sah eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht für gegeben, da der Fußgängerverkehr ausnahmsweise durch den Kirchhof eröffnet wurde, ohne den Weg ausreichend zu beleuchten oder auf die Stufe hinzuweisen. Besonders gefährlich an der vorliegenden Konstellation war in diesem Fall, dass die betreffende Stufe völlig unvermittelt auf dem Weg auftauchte – also nicht am Beginn einer Treppe lag, die man hätte erkennen können. Ein Mitverschulden der Geschädigten war daher nicht anzunehmen. Von den Besuchern der Messe, die den Ausgang bestimmungsgemäß benutzten, war nicht zu verlangen, sich tastend in „Trippelschritten“ vorwärts zu bewegen. Weil der Weg für eine größere Gruppe von Menschen geöffnet wurde, durften sie darauf vertrauen, dass keine unvermittelten Hindernisse auftreten. Sie mussten mit Kopfsteinpflaster und ähnlichen Hindernissen auf dem Weg in der historischen Umgebung rechnen, nicht dagegen mit unvermittelt auftretenden Stufen.

Hinweis: Eine haftungsbegründende Verkehrssicherungspflicht beginnt dort, wo für den aufmerksamen Verkehrsteilnehmer eine Gefahrenlage überraschend eintritt und nicht rechtzeitig erkennbar ist. Ein Mitverschulden kommt nur in Betracht, wenn ein sorgfältiger Mensch Anhaltspunkte für die Verkehrssicherungspflichtverletzung rechtzeitig hätte erkennen können und die Möglichkeit besessen hätte, sich auf die Gefahr einzustellen.

Quelle: Schleswig-Holsteinisches OLG, Urt. v. 30.06.2016 – 11 U 111/15
Thema: Verkehrsrecht

Unfallschwerpunkt Haltestelle: Vorrang des Fahrzeugverkehrs gilt bei erkennbar haltendenden Bussen nur eingeschränkt

Am rechten Fahrbahnrand hielten zwei Omnibusse hintereinander. Aus dem ersten Bus stieg ein Kind aus und kreuzte vor ihm die Straße. Hierbei kam es zu einer Kollision mit einem Pkw, der mit einer Geschwindigkeit von 15 bis 20 km/h mit einem Seitenabstand von etwa zwei Metern an den haltenden Bussen vorbeifuhr.

Das Amtsgericht Backnang hat sowohl auf Seiten des Pkw-Fahrers als auch auf Seiten des Kindes ein 50%iges Mitverschulden am Zustandekommen des Unfalls angenommen. Von Pkw-Fahrern, die an haltenden Bussen vorbeifahren, werden eine erhöhte Aufmerksamkeit und Bremsbereitschaft sowie eine sorgfältige Beobachtung der Verkehrssituation verlangt. Sie können in einem solchen Fall nicht einfach darauf vertrauen, dass ihnen ihr durchaus gegebener Vorrang Fußgängern gegenüber auch tatsächlich eingeräumt wird. Vielmehr wird eine derart reduzierte Geschwindigkeit verlangt, dass etwa vor plötzlich auftauchenden Fahrgästen – insbesondere Kindern – rechtzeitig angehalten werden kann. Andererseits hat das Kind den Unfall mitverursacht, weil es den grundsätzlichen Vorrang des Fahrzeugverkehrs nicht beachtet hatte. Wer zu Fuß eine Fahrbahn überquert, muss den Fahrzeugverkehr berücksichtigen.

Hinweis: An Omnibussen des Linienverkehrs, die an Haltestellen stehen, darf nur vorsichtig vorbeigefahren werden. Wenn der Linienbus die Warnblinkanlage eingeschaltet hat oder der Fahrzeugverkehr gezwungen ist, rechts an dem Bus vorbeizufahren, ist die Schrittgeschwindigkeit einzuhalten.

Quelle: AG Backnang, Urt. v. 19.05.2015 – 5 C 799/14
Thema: Verkehrsrecht

Trotz 200 km/h: 50%iger Schadensersatzanspruch nach Unfall durch Bodenwelle

Selbst eine Fahrt mit einer Geschwindigkeit von 200 km/h führt nicht zu einer Alleinhaftung desjenigen, der die Richtgeschwindigkeit überschreitet. Verletzt gleichzeitig der Träger der Straßenbaulast seine Verkehrssicherungspflicht, ist von einer hälftigen Haftungsverteilung auszugehen.

Auf einer Autobahn befand sich eine quer zur Fahrbahn verlaufende, 18 cm hohe Bodenwelle. Über diese fuhr ein Fahrer eines Ferrari Modena mit einer Geschwindigkeit von etwa 200 km/h. Wegen der Bodenwelle kam er von der Fahrbahn ab und verunglückte. Bereits zuvor war aufgrund der Bodenwelle ein anderer Fahrzeugführer mit seinem Fahrzeug von der Fahrbahn abgekommen und tödlich verunglückt. Der jetzt Geschädigte verlangt vom Träger der Straßenbaulast Schadensersatz.

Das Landgericht Aachen hat dem Geschädigten Schadensersatz in Höhe von 50 % zugesprochen. Der Straßenbaulastträger wäre verpflichtet gewesen, mit einem Verkehrsschild vor der Bodenwelle zu warnen. Jeder Verkehrsteilnehmer dürfe erwarten, dass insbesondere auf Autobahnen vor erheblichen Höhenunterschieden gewarnt werde. Hier hätten daher eine Geschwindigkeitsbegrenzung und ein Hinweis auf die Bodenwelle erfolgen müssen. Bodenwellen gefährden Verkehrsteilnehmer immer dann, wenn das Risiko eines Sprungschanzeneffekts besteht, was im vorliegenden Fall aufgrund der Feststellungen des Sachverständigen der Fall war. Dieser erklärte, dass er eine Bodenwelle auf Autobahnen im vorliegenden Ausmaß noch nie gesehen habe. Andererseits berücksichtigt das Gericht aber auch ein Mitverschulden des Pkw-Fahrers, der die auf Autobahnen geltende Richtgeschwindigkeit von 130 km/h deutlich überschritten hatte.

Hinweis: Immer dann, wenn die Richtgeschwindigkeit überschritten wird, kann wie hier eine Mithaftung zumindest aus der Betriebsgefahr begründet werden. Diese tritt nur dann vollständig zurück, wenn bewiesen ist, dass die gefahrene Geschwindigkeit keinen Einfluss auf den Unfall hatte – es also auch bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit zu dem Unfall mit vergleichbar schweren Folgen gekommen wäre.

Quelle: LG Aachen, Urt. v. 01.10.2015 – 12 O 87/15 
Thema: Verkehrsrecht

Schmerzensgeld: Unverhältnismäßiger Zugriff eines Polizeihundes

Polizeihunde sind für die Polizeiarbeit unverzichtbar. Allerdings muss der Hund auch stets gehorchen.

Die Polizei fahndete nach den Tätern eines Raubüberfalls. Als mehrere Jugendliche die Polizeifahrzeuge sahen, liefen sie davon. Die Polizisten hielten das für verdächtig und nahmen an, die Räuber vor sich zu haben. Ein Polizeihundeführer setzte deshalb seinen Hund ein. Der stürzte sich auf einen der Jugendlichen und fügte ihm zahlreiche Bissverletzungen an den Unterarmen, am Oberarm, am Rücken und an einem Bein zu.

Im Nachhinein stellte sich jedoch heraus, dass der Jugendliche mit dem Raub nichts zu tun hatte.

Der Verletzte forderte daher Schmerzensgeld, das er auch erhielt. Allerdings erklärte das Gericht, dass es nicht von einer Amtspflichtverletzung des Diensthundeführers ausging und der alkoholisierte Jugendliche ein erhebliches Mitverschulden trug. Denn die Polizeibeamten waren berechtigt, den Jugendlichen vorläufig festzunehmen, da zunächst tatsächlich der Verdacht einer Straftat bestanden hatte. Nur die Vielzahl der Bissverletzungen, die der Jugendliche erlitten hatte, war nicht verhältnismäßig.

Hinweis: Ein Diensthundeführer muss seinen Hund so beherrschen und kontrollieren, dass ein willkürliches Beißen des Hundes ausgeschlossen ist.

Quelle: OLG Karlsruhe, Urt. v. 18.06.2015 – 9 U 23/14

Thema: Sonstiges

Fahrspur verlassen: Hälftiges Mitverschulden trotz Vorfahrtsberechtigung

Ist an einer gleichberechtigten Kreuzung die Sicht für den von links kommenden Fahrzeugführer durch eine Hecke eingeschränkt, darf er sich nur vorsichtig in die Einmündung hineintasten. Kommt es zu einem Unfall mit einem Vorfahrtsberechtigten, der die Kurve schneidet, weil er seine Fahrspur verlassen hat, ist eine hälftige Haftungsverteilung vorzunehmen.

Eine Fahrzeugführerin befuhr innerorts eine Straße, von der sie nach rechts abbiegen wollte. Im Einmündungsbereich war ihre Sicht nach rechts durch eine Hecke stark eingeschränkt. Daraufhin kam es zu einem Verkehrsunfall mit einem vorfahrtsberechtigten Fahrzeug, dessen Fahrer von der Vorfahrtstraße nach links einbog – ihr also quasi entgegenkam -, wobei er die Kurve allerdings stark schnitt.

Das Oberlandesgericht Koblenz (OLG) hat in diesem Fall beiden Verkehrsteilnehmern eine Haftung von je 50 % zugeschrieben. Nach den Ermittlungen eines vom OLG beauftragten Sachverständigen hat sich zum einen die wartepflichtige Fahrzeugführerin nicht zentimeterweise in die Kreuzung hineingetastet, sondern ist lediglich mit Schrittgeschwindigkeit gefahren. Diese war jedoch bei den stark eingeschränkten Sichtmöglichkeiten als überhöht anzusehen. Zum anderen trifft auch den Vorfahrtsberechtigten ein Mitverschulden. Zwar hatte dieser sein Vorfahrtsrecht nicht verloren, seine Mithaftung ist aber darin begründet, dass er beim Linksabbiegen nicht in seiner Fahrspur geblieben ist, sondern die Kurve so stark schnitt, dass er mit der zu unvorsichtig einbiegenden Verkehrsteilnehmerin zusammenstieß.

Hinweis: Grundsätzlich spricht der Beweis des ersten Anscheins gegen denjenigen, der das Vorfahrtsrecht verletzt – und damit für sein alleiniges Verschulden. Steht allerdings fest, dass der Vorfahrtberechtigte sich ebenso verkehrswidrig verhalten hat – z.B. durch überhöhte Geschwindigkeit oder das starke Anschneiden einer Kurve -, kann es zu einer Mithaftung kommen. Mit wie viel Prozent die Mithaftung anzusetzen ist, unterliegt dem richterlichen Ermessensspielraum.

Quelle: OLG Koblenz, Urt. v. 16.03.2015 – 12 U 649/14

  • 1
  • 2