Grenzüberschreitende Erbfälle: Angerufenes Gericht des Mitgliedstaats muss Kriterien für subsidiäre Zuständigkeit prüfen
Die EU-Erbrechtsverordnung ist entstanden, um es EU-Bürgern zu ermöglichen, ihre Rechte als Erben und Vermächtnisnehmer effektiv zu wahren. Sie ist daher so angelegt, dass ein in einer Erbsache befasstes (nationales) Gericht in den meisten Situationen sein eigenes Recht anwenden kann. Hierfür hat die Verordnung eine Reihe von Zuständigkeitsregeln aufgestellt, die zuletzt Gegenstand einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) waren.
Der Erblasser war französischer Staatsangehöriger und verstarb 2015 in Frankreich, wo er Nachlassvermögen hatte. Von 1981 bis August 2012 lebte er im Vereinigten Königreich, wo er 1996 eine britische Staatsangehörige geheiratet hatte. Aus dieser Ehe hinterließ er drei Kinder, die in Frankreich lebten. Diese wandten sich an das in Frankreich zuständige Regionalgericht und beriefen sich auf dessen Zuständigkeit nach der Grundregel der EU-Erbrechtsverordnung, da nach deren Ansicht der Erblasser zum Zeitpunkt des Todes dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
Das Gericht ging zunächst von seiner Zuständigkeit aus und bestellte einen Nachlassverwalter. Das Berufungsgericht hob diese Entscheidung auf und begründete dies damit, dass der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes noch immer seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Vereinigten Königreich hatte. Gegen diese Entscheidung legten die Kinder des Erblassers Beschwerde ein und begründeten dies damit, dass das Gericht, nachdem es die Zuständigkeit aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts verneint hatte, hätte prüfen müssen, ob eine andere (subsidiäre) Zuständigkeit des französischen Gerichts dadurch gegeben sei, dass sich das Nachlassvermögen in Frankreich befunden hat.
Das Gericht hat diese Frage zur Beantwortung dem EuGH vorgelegt, der im Sinne der Kinder entschieden hat. Das französische Gericht (Cour de cassation) hat den Rechtsstreit nunmehr unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH zu entscheiden.
Hinweis: Die Entscheidung hat ebenfalls Bedeutung für grenzüberschreitende Erbfälle, die vor einem deutschen Gericht verhandelt werden. Auch in der deutschen Gerichtsbarkeit gilt somit, dass das angerufene Gericht, sofern es seine Zuständigkeit wegen des fehlenden gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers in Deutschland verneint, von Amts wegen zu prüfen hat, ob seine Zuständigkeit aufgrund eines Nachlassvermögens in Deutschland nicht doch begründet ist.
Quelle: EuGH, Urt. v. 07.04.2022 – C-645/20