Intelligenzminderung und Schwerhörigkeit: Zweifel an Testierfähigkeit müssen durch Gutachten geklärt werden
Im Folgenden wird die wichtige Frage behandelt, wann der letzte Wille zu beachten und wann er berechtigterweise anzuzweifeln ist, wenn der Testierwille des Erblassers wegen Intelligenzminderung und hochgradiger Schwerhörigkeit infragesteht. Das erstinstanzliche Amtsgericht Neubrandenburg (AG) machte bei seiner Beurteilung einen entscheidenden Fehler, den das Oberlandesgericht Rostock (OLG) schließlich korrigierte.
Der Erblasser erstellte drei Testamente, die nach seinem Tod an verschiedenen Orten gefunden wurden. Die Testamente enthielten leichte Unterschiede, aber sie setzten jeweils eine der Beteiligten im Erbscheinsverfahren als alleinige Erbin für das Haus und das Grundstück des Erblassers ein. Die übrigen Beteiligten hielten die Testamente für unwirksam, da der Erblasser aufgrund einer Hirnschädigung mit Intelligenzminderung nach deren Ansicht nicht testierfähig gewesen sei. Die Erbin hielt die Testamente dagegen für wirksam. Sie pflegte eine enge Freundschaft mit dem Erblasser, beide hatten gemeinsam Pläne, ein Wohnhaus in einen Souvenir- und Gebrauchtwarenladen umzubauen. Sie argumentierte, dass der Erblasser voll geschäftsfähig gewesen sei und dass die Testamente seine Absicht widerspiegeln, sie und andere vertraute Personen zu begünstigen.
Das AG hatte unter anderem den Hausarzt des Erblassers um Informationen zu seinem Gesundheitszustand gebeten. Dieser bestätigte, dass der Erblasser eine Intelligenzminderung und eine hochgradige Schwerhörigkeit hatte, was zu erheblichen Problemen bei der Bewältigung des Alltags führte. Der Arzt zweifelte daran, dass der Erblasser in der Lage war, ein solches Testament selbst zu verfassen und zu verstehen. Das AG lehnte die Erteilung eines Erbscheins für die vermeintliche Erbin daraufhin ab und begründete dies mit einem mangelnden Testierwillen.
Das OLG hob die Entscheidung auf. Anhaltspunkte für einen fehlenden Testierwillen konnte das OLG nicht erkennen. Intensiver beschäftigte sich das Gericht mit der Frage der Testierfähigkeit. Grundsätzlich gilt in diesem Zusammenhang, dass ein Erblasser bis zum Beweis des Gegenteils als testierfähig anzusehen ist, da die Störung der Geistestätigkeit die Ausnahme bildet. Dies gilt selbst dann, wenn der Erblasser unter Betreuung steht. Die Testierunfähigkeit muss also zur vollen Gewissheit des Gerichts feststehen. Zweifel an der Testierfähigkeit sind dabei regelmäßig durch Gutachten eines psychiatrischen oder nervenärztlichen Sachverständigen zu klären, was das AG hier aber nicht veranlasst hatte, da es bereits von einem fehlenden Testierwillen ausgegangen war. Das vom OLG in der Beschwerdeinstanz eingeholte Gutachten kam jedoch zum Ergebnis, dass keine Anhaltspunkte für eine Testierunfähigkeit des Erblassers bestanden haben.
Hinweis: Bereits Minderjährige können ab dem 16. Lebensjahr ein Testament errichten und sind damit testierfähig, ohne dass sie hierfür eine Zustimmung ihrer gesetzlichen Vertreter benötigen.
Quelle: OLG Rostock, Beschl. v. 12.04.2023 – 3 W 74/21