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5. November 2022
Ordre public: Wenn die Wahl des englischen Erbrechts gegen deutsches Recht von Verfassungsrang verstößt

Die EU-Erbrechtsverordnung lässt es zu, dass eine Person für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht des Staates wählen kann, dem diese Person zum Zeitpunkt der Rechtswahl oder im Zeitpunkt des Todes angehört. So kann ein seit vielen Jahren in Deutschland lebender britischer Staatsbürger für seine letztwillige Verfügung von Todes wegen grundsätzlich die Anwendbarkeit von englischem Recht bestimmen. Doch es gibt Ausnahmen, wie im folgenden Fall des Bundesgerichtshofs (BGH).

Der Erblasser hatte im Jahr 1975 mit einem notariell beurkundeten Kindesannahmevertrag den Kläger dieses Verfahrens adoptiert. Der Vertrag enthielt folgende Regelung: „Die Erb- und Pflichtteilsrechte für das Kind und dessen künftige Abkömmlinge nach dem Erstversterbenden der annehmenden Eheleute werden ausgeschlossen“. Mit notariellem Testament aus dem Jahr 2015 setzte der Erblasser die Beklagte als Alleinerbin ein und wählte bezüglich der Rechtsnachfolge das englische Recht. Der Adoptivsohn des Erblassers verlangte von der eingesetzten Erbin Auskunft über den Bestand des Nachlasses durch Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses.

Diesem Antrag gab der BGH letztinstanzlich statt. Denn die Regelung des englischen Rechts, die erwachsenen Kindern regelmäßig keinen Anspruch auf Teilhabe am Nachlass zugesteht, verstößt gegen deutsches Recht von Verfassungsrang – den sogenannten „ordre public“. Ein solcher Verstoß führe dazu, dass trotz der getroffenen Rechtswahl das deutsche Recht anzuwenden ist. In diesem Fall hat auch das adoptierte Kind als Pflichtteilsberechtigter einen entsprechenden Auskunftsanspruch gegen die testamentarische Alleinerbin.

Hinweis: Nicht jeder Verstoß gegen inländisches Recht reicht für eine Abweichung von der durch Rechtswahl getroffenen Regelung aus. Es muss sich um einen erheblichen Verstoß handeln, der im konkreten Einzelfall dem Grundgedanken der nationalen Regelung entgegensteht.

Quelle: BGH, Urt. v. 29.06.2022 – IV ZR 110/21