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Schlagwort: Beweis des ersten Anscheins

Kommunikation unverzichtbar: Ein bloßes Anhalten darf nicht als Vorfahrtsverzicht interpretiert werden

Ob es die Orientierung in unbekannter Gegend, ein Stau oder einfach Freundlichkeit ist: Die meisten Verkehrsteilnehmer haben anderen sicherlich schon einmal ihr Vorfahrtsrecht überlassen. Dass für solche Ausnahmen eine klare Kommunikation der nur bloßen Annahme vorzuziehen ist, beweist der folgende Fall des Oberlandesgerichts Hamm (OLG).

Eine 79-jährige Pedelecfahrerin fuhr auf eine unbeschilderte Kreuzung zu. Ein für sie von rechts kommender Lkw stoppte ab, um seinerseits abzuklären, ob für ihn von rechts vorfahrtberechtigte Verkehrsteilnehmer kommen. Da dies nicht der Fall war, fuhr er an und kollidierte im Kreuzungsbereich mit der Pedelecfahrerin. Sie war ihrerseits der Meinung, nun von dem Lkw-Fahrer, der ja schließlich hielt und statt des von ihr erwarteten Vorfahrtsverzichts wieder anfuhr, Schadensersatz erwarten zu dürfen. Doch da schüttelte das OLG die Köpfe.

Das Gericht entschied, dass der Pedelecfahrerin keine Schadensersatzansprüche zustehen, da sie das Vorfahrtsrecht des Lkw-Fahrers missachtet hatte. Diesem konnte kein Sorgfaltsverstoß nachgewiesen werden; sein Anhalten durfte die Geschädigte nicht als Vorfahrtsverzicht auslegen. Das Anhalten erklärt sich aus der Pflicht des Brummifahrers, sich des ihm gegenüber bevorrechtigten Verkehrs zu vergewissern. Dies hat auch ein hinter der Geschädigten fahrender Autofahrer so gesehen, der deshalb nicht in die Kreuzung eingefahren war. Und zu guter Letzt kam vom OLG ein Klassiker des Verkehrsrechts: Der Beweis des ersten Anscheins sprach außerdem für das Verschulden der wartepflichtigen Pedelecfahrerin.

Hinweis: An einen Vorfahrtsverzicht sind nach der Rechtsprechung hohe Anforderungen zu stellen. Nur wenn ein solcher zwischen dem Wartepflichtigen und dem Vorfahrtberechtigten eindeutig und unmissverständlich kommuniziert wird, darf der Wartepflichtige weiterfahren. Die Beweislast liegt insofern bei ihm.
 
 

Quelle: OLG Hamm, Beschl. v. 23.11.2018 – 7 U 35/18

Thema: Verkehrsrecht

Mithaftung trotz Vorfahrt: Wer draufhält, statt angemessen zu reagieren, trägt nach einer Kollision die Schuld zur Hälfte

Konnte der Vorfahrtberechtigte die Kollisionsgefahr frühzeitig erkennen und hatte er hinreichend Zeit, sein Fahrzeug vor der Kollision zum Stehen zu bringen oder auszuweichen, ist von einer hälftigen Haftungsquote auszugehen.

Eine Autofahrerin fuhr in eine Hauptstraße, obwohl sich von links ein vorfahrtberechtigtes Fahrzeug näherte. Dann stand sie mit ihrem Heck quer auf der Fahrbahn, wobei das Heck ihres Fahrzeugs erheblich in die Fahrbahn des Vorfahrtberechtigten hineinragte. Hierbei kam es zwischen beiden zur Kollision.

Obwohl eindeutig eine Vorfahrtsverletzung vorlag, hat das Oberlandesgericht Celle hier eine Schadensverteilung von 50 : 50 vorgenommen. Die Wartepflichtige hat natürlich gegen ihre Pflicht verstoßen, beim Einfahren in die Fahrbahn die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen. Indem sie quer auf der Fahrbahn stand, nachdem sie in die Straße hineingefahren war und damit ein Hindernis darstellte, obwohl sich aus ihrer Sicht von links der Vorfahrtberechtigte näherte, stand das schon einmal fest. Doch eben dieser Vorfahrtsberechtigte hätte die Kollisionsgefahr frühzeitig erkennen können und ausreichend Gelegenheit dazu gehabt, auf die teilweise Blockierung der von ihm befahrenen Fahrspur zu reagieren. Er hätte sein Fahrzeug abbremsen oder leichte Ausweichbewegung nach rechts ausführen und somit die Kollision seinerseits verhindern können. Das Gericht bewertet daher beide Verschuldensanteile gleichwertig.

Hinweis: Grundsätzlich spricht der Beweis des ersten Anscheins für das alleinige Verschulden des Wartepflichtigen bei der Kollision mit dem Vorfahrtberechtigten. Im vorliegenden Fall hat das Gericht allerdings darauf abgestellt, dass den Vorfahrtberechtigten ein Verschulden am Zustandekommen des Unfalls trifft, da er schlicht nicht reagiert hat, obwohl es ihm möglich gewesen wäre.

Quelle: OLG Celle, Urt. v. 19.12.2017 – 14 U 50/17

Thema: Verkehrsrecht

Zeugenloser Unfall: Anscheinsbeweis spricht gegen Linksabbieger und für dessen 100%ige Haftung

Kommt der Fahrer eines Elektrorollers beim Überholen eines linksabbiegenden Pedelecs zu Fall, spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Linksabbiegers.

Der Fahrer eines Elektrorollers fuhr in gleicher Fahrtrichtung wie ein Pedelec-Fahrer, wobei sich dieser etwas vor ihm befand. Kurz vor einer durch Verkehrszeichen markierten Überquerungshilfe bog der Pedelec-Fahrer plötzlich nach links ab, um die Straße zu überqueren, ohne jedoch hierbei auf den nachfolgenden Verkehr zu achten. Der Elektrorollerfahrer wollte gerade in diesem Zeitpunkt das Pedelec überholen, erschreckte sich infolge des Abbiegemanövers und stürzte, ohne dass es dabei zu einer Berührung der Beteiligten kam.

Das Oberlandesgericht München (OLG) hat entschieden, dass der Pedelec-Fahrer zu 100 % haftet, auch wenn es nicht zu einer Kollision gekommen ist. Dem Pedelec-Fahrer war es nicht gelungen, den gegen ihn wirkenden „Beweis des ersten Anscheins“ zu erschüttern oder gar zu beseitigen. Dies wäre zum Beispiel möglich gewesen, wenn er hätte nachweisen können, dass er rechtzeitig den beabsichtigten Fahrtrichtungswechsel angezeigt hätte oder der Elektrorollerfahrer selbst verbotswidrig bei unklarer Verkehrslage überholt habe. Etwas Derartiges konnte er aber mangels Zeugen nicht beweisen. Auch ein anteiliges Mitverschulden des Elektrorollerfahrers kam nicht in Betracht, da hierfür nur Faktoren hätten berücksichtigt werden dürfen, die unstreitig oder erwiesen zur Entstehung des Schadens beigetragen haben und dem Elektrorollerfahrer eindeutig zuzurechnen gewesen wären. Aber auch das war in den Augen des Gerichts nicht der Fall.

Hinweis: Die Entscheidung des OLG zeigt einmal mehr, dass auch ohne Zeugenaussagen eine 100%ige Haftung nach Anscheinsbeweisgrundsätzen möglich ist. Ein Anscheinsbeweis kommt immer dann in Betracht, wenn ein allgemeiner Erfahrungssatz den Schluss aufdrängt, eine bestimmte Folge sei auf eine bestimmte Ursache (oder umgekehrt) zurückzuführen.

Quelle: OLG München, Urt. v. 11.09.2015 – 10 U 1455/13

Thema: Verkehrsrecht